Expertenrat Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen
Eckpfeiler einer Langfriststrategie für die Pandemie und darüber hinaus
Bundesregierung und Landesregierungen stehen vor einer großen Herausforderung: Die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben nicht den von der Politik erwünschten Erfolg gebracht. Die Verschärfung des Lockdowns hat zwarzu einer Stabilisierung der Neuinfektionszahlen geführt, doch die Sterblichkeit infolge des Virus im höheren Alter ist weiterhin hoch, mitunter angestiegen. Die allgemeine, präventive Strategie des Lockdowns hat den vulnerablen Gruppen – Menschen in Alten-und Pflegeheimen sowie grundsätzlich im höheren Alter – nicht ausreichend geholfen. Zugleich stehen viele wirtschaftliche Existenzen in den geschlossenen Branchen vor der Aussichtslosigkeit.
Diese Politik läuft Gefahr, die Bevölkerung als Ganzes nicht mehr zu erreichen und zu überzeugen. Immer deutlicher zeigen sich Extreme – Corona-Leugner am einen Ende, Lockdown-Fanatiker am anderen Ende. Deshalb muss es der Politik auf allen Ebenen gelingen, die gewählte Strategie besser einzuordnen, zu begründen, auf realistische Ziele hin zu orientieren. Dazu gehört es auch, die eigenen Zweifel und Spannungen nicht zu verbergen. Das freilich verlangt die Stärke, das eigene Handeln nicht als alternativlos hinzustellen, sondern es als auf Zeit begründete Auswahl aus einem Angebot unterschiedlicher Möglichkeiten zu vermitteln. Eine intensivere Verankerung der notwendigen Entscheidung durch die parlamentarische Beteiligung dürfte die Erklärung und Einordnung erleichtern.
Die Entscheidung am 19. Januar 2021 sollte aus einem Verständnis künftiger Normalität abgeleitet werden, öffentlich und privat mit diesem Virus leben zu können. Die Impfstoffe werden aller Voraussicht nach das Virus nicht zum vollständigen Verschwinden bringen. Die politische Strategie sollte in diesem Sinne von ihrem Ende her gedacht werden und die für die künftige Normalität als notwendig, möglich und sinnvoll zu erachtenden Vorkehrungen in den Blick nehmen. Während der Impfkampagne sind begleitend Präventionsmaßnahmen (Schutzkonzepte für Alten-und Pflegeheime, Masken im öffentlichen Raum, überprüfbare Hygienekonzepte, differenzierte Teststrategie u.a.m.) erforderlich. Der Impfstoff erbringt die Chance, das Virus zu kontrollieren und damit auf ein – im Vergleich mit anderen Infektionskrankheiten – hinnehmbares Maß zu bringen. Dazu gehört auch ein genaues Monitoring veränderter Varianten des Virus.
Mit Blick auf die zu beschreibende künftige Normalität leiten sich die heute bedeutsamen Fragen ab: Wie gestalten wir den Lockdown für die nächsten Monate, gerade auch unter Berücksichtigung der sich in Existenzsorgen zuspitzenden Kollateralwirkungen, übrigens keineswegs nur wirtschaftlicher Art? Wie und unter welchen Bedingungen organisieren wir den Prozess der sukzessiven Öffnung? Wie verhindern wir in der vor uns liegenden Phase hoher Risiken einen dritten Lockdown?
Die Politik sollte daher ihr Krisenmanagement nicht länger darauf beschränken, lediglich situativ auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Das ermüdende Narrativ, die Krise könnte diesmal durch diese, oftmals allzu unspezifische Maßnahme langfristig bewältigt werden, ist weder sachlich noch im Hinblick auf die gesellschaftliche Stimmung zielführend. Bei einer kritischen Reflexion der bisherigen Strategie darf es nicht um Schuldzuweisungen für unzutreffende Einschätzungen oder vermeintlich fehlerhafte Entscheidungengehen. Vielmehr gilt es, die identifizierten Versäumnisse so rasch wie möglich zu überwinden, um unsere Gesellschaft besser durch die Krise zu führen. Dafür sehen wir vor allem die Klärung der folgenden Fragen als erfolgskritisch an:
1. Wie erfassen wir Struktur und Dynamik des epidemiologischen Geschehens besser?
Es ist erstaunlich und nicht hinnehmbar, dass über die Ansteckungsorte sowie die Dynamik des epidemiologischen Geschehens seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 immer noch zu wenig bekannt ist. Daher sollte zügig ein forschungsbasiertesund interdisziplinär ausgerichtetes Monitoring eingerichtet werden, das vom Bund zentral koordiniert werden sollte. Zudem sollten zügig die Corona-App weiterentwickelt und technologische Tracing-Tools breitflächig implementiert werden. Die Gründe für das bisherige Unterlassen sind eine realitätsferne Diskussion um Datenschutz sowie die mangelnde Bereitschaft, bereits vor Eintreten einer schwierigen Situation konsequent Vorbereitungen für ein differenzierteres Vorgehen zu treffen. Das fehlende Wissen ist einer der Gründe dafür, dass politische Reaktionen stets nur eine Handlungsperspektive und nur eine Zeitperspektive bis zum Ende der letzten Maßnahme zu haben scheinen.
2. Wie können wir eine stärker differenzierte Strategie ermöglichen?
Eine stärker differenzierte Strategie setzt exakt jenes Wissen voraus – wie unvollständiges auch immer sein mag. Eine differenzierte Strategie fängt schon dort an, wo es nicht nur um die Alternative pro oder contra Lockdown geht, vor allem aber dort, wo riskantere und weniger riskante Strategien und Praktiken identifizierbar sind. Dazu gehört eine Einschätzung darüber, wie strikt sich die Bevölkerung an Regeln hält. Eine differenzierte Strategie ist deshalb entscheidend davon abhängig, dass die Eingriffe in die Alltagspraktiken der Menschen nicht nur plausibel und konsistent, sondern auch praktisch handhabbar sind und die Kollateralwirkungen verantwortlich beachten. Es müssen bereits während des jetzigen Lockdowns Kriterien definiert werden, wie es nach dessen Zurückfahren differenziert weitergeht, um nicht wie andere Länder nach der „Wiederöffnung der Gesellschaft“ in ein erneutes exponentielles Wachstum der Infektionszahlen zu geraten.
3. Wie kann es gelingen, die Umsetzungsdisziplin staatlicher Stellen zu erhöhen?
Das beste Krisenmanagement wird wirkungslos verpuffen, wenn die dort beschlossenen Maßnahmen von den nachgelagerten Stellen im Verwaltungshandeln nicht umgesetzt werden, weil die technischen Voraussetzungen fehlen, die Ziele realistisch nicht erreichbar sind oder die politische Führung nicht ambitioniert und mit einer Zukunftsperspektive nachsteuert. Es ist auch der Gesellschaft nicht vermittelbar, wenn private Akteure (Unternehmen, Kultur-/Bildungsinstitutionen, Familien) wie selbstverständlich Anpassungsleistungen erbringen, beim öffentlichen Verwaltungshandeln dies aber verdrängt und nicht nachgehalten wird. Die Stringenz und Verlässlichkeit der Umsetzung ist Teil eines funktionierenden Krisenmanagements. Der seit Jahren offenbare Rückstand der staatlichen Verwaltung bei der Digitalisierung erweist sich jetzt als zusätzliche Bürde. Das zeigt sich bei der Nachverfolgung der Infektionsketten durch die Gesundheitsämter, das zeigt sich bei der Umsetzung der Hilfen für vom Lockdown betroffene Branchen. Die Diagnose ist ernst: Es ist oftmals nicht der gute Wille oder die konzeptionelle Zielsetzung, die vor Ort fehlt, sondern neben mangelnder Führung die unzureichende technische Kompetenz und Stringenz.
Düsseldorf, 18. Januar 2021
Stephan Grünewald, Köln;
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe, Tübingen;
Prof. Dr. Michael Hüther, Köln;
Monika Kleine, Köln;
Prof. Dr. Renate Köcher, Allensbach;
Prof. Dr. Armin Nassehi, München;
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph M. Schmidt, Essen;
Prof. Dr. Hendrik Streeck, Bonn;
Prof. Dr. Christiane Woopen, Köln.
Prof. Dr. Dr. Udo di Fabio, Dr. Nicola Leibinger-Kammüller und Claudia Nemat war aufgrund zeitlicher Restriktionen eine Mitarbeit an der Stellungnahme nicht möglich.